Persönlicher Einblick in die Gefängnisseelsorge: Hansueli Hauenstein

Entlassung und Abschied

Samstag, 4. Mai 2024

Seelsorger Hansueli Hauenstein. (Bild Emanuel Ammon) Seelsorger Hansueli Hauenstein. (Bild Emanuel Ammon)

Bald werde ich aus dem Gefängnisdienst entlassen. Der Moment, wo sich die Eingangstür der JVA Grosshof zum letzten Mal hinter mir schliesst, rückt näher. Es wird ein seltsamer Moment sein, in dem, wie bei anderen Austretenden, Entlastung und Beschwernis sich miteinander verbinden.

Entlastet werde ich von der Verantwortung, für andere Menschen da zu sein und ihnen einen Teil meiner Kraft, meiner Zeit und meines Lebens zu schenken, entlastet aber auch von der kniffligen Gratwanderung zwischen den Ansprüchen dieser Menschen und den Ansprüchen der Institution an Sicherheit, Integrität und Transparenz.

Die Beschwernis liegt im Abschied von Menschen, Begegnungen und Erfahrungen, die mir im Lauf der Jahre lieb geworden sind. Das Gefängnis ist ein Kosmos von erlebten, erlittenen, erträumten und verpassten Geschichten, in die ich verwickelt worden bin und die Spuren hinterlassen.

Ich werde entlassen aus einer Institution, die in unserer Gesellschaft schlechte Karten hat. Von Kuscheljustiz, Wellnesshotels und Opfervergessenheit ist die Rede. Nichts davon ist wahr. Hinter Mauern und Gittern vermutet man böse Menschen. Es stimmt: gewisse Kriminelle sind dort anzutreffen. Andere kandidieren für Präsidentenämter. Oft bin ich gefragt worden, ob ich keine Angst verspüre, wenn ich im Gefängnis bin. 

Die Frage hat mich immer irritiert. Wieso sollte ich? Was könnte Furcht wecken angesichts eines in Tränen aufgelösten jungen Mannes, der sich Stunde um Stunde nach seiner Frau und seinem Kind sehnt? Was wäre beängstigend an einer Frau, die ihre von Gewalt geprägte Kindheit hinter religiösen Zwangsvorstellungen versteckt – oder die nach Verwahrlosungs- und Missbrauchserfahrungen auf der Gasse wenigstens vorübergehend wieder zu sich selber findet? Wieso sollte ich mich fürchten vor Menschen, deren Schicksale sich oft in Sekundenbruchteilen entscheiden? Niemand von uns ist davor gefeit.

Das Herz nicht zu verschliessen: im Gefängnis, unter gefangenen Menschen, ist mir das oft leichter gefallen als draussen, in einer selbstgerechten, bornierten Welt. Gefängnisse sind auch Inseln, Biotope, Lebensräume. Ich war dort nur als Gast, nicht als Gefangener. Aber die Tür wird sich schliessen. Und ein Teil des Herzens bleibt zurück.

Hansueli Hauenstein, Gefängnisseelsorger